Geschichten und Geschichte, das passt auch auf Twitter ganz gut zusammen. Nach einem ersten Blick auf unterschiedliche Möglichkeiten, Stories auf Twitter zu erzählen und einer Zusammenfassung des #twitterfiction-Festivals geht es im dritten Teil der Serie Twitter und Storytelling um die Experimente, Historie auf Twitter abzubilden. Auf viele der hier vorgestellten Beispiele bin ich im Buch bzw. auf der Webseite von Bryan Alexander, The New Digital Storytelling gestoßen. Das Kunstwort „Twistory“ bezeichnete eigentlich einen Service, der Twitterfeeds auslas, und Bilder der Emotionen von Tweets erstellte – seit Twitter den Zugang zur API verändert hat, gibt es Twistory nicht mehr, hier steht es für die Zusammensetzung aus Twitter und history. (Die Grenzen zwischen historischen Fakten und Storytelling sind hier übrigens fließend)

Historische Ereignisse auf Twitter

Als in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 das (damals) größte Schiff der Welt auf seiner Jungfernfahrt einen Eisberg rammte und zwei Stunden und 40 Minuten später unterging, waren Menschen weltweit zutiefst erschüttert. Ein englischer Verlag, The History Press, der viele Bücher über die Titanic im Programm hat, überlegte sich zum 100. Jahrestag eine Twitteraktion rund um den Untergang des Schiffs. Mit dem Account @TitanicRealTime twitterte man die einzige Fahrt der RMS Titanic vom 10. März (die Reise begann allerdings erst am 10. April) bis 15. April 2012 Tweet für Tweet und gab dabei auch unterschiedlichen Gruppierungen an Bord eine Stimme. Gekennzeichnet durch unterschiedliche Hashtags kamen Offiziere, einzelne Passagiere, die 1. Klasse, der Maschinenraum usw. (siehe auch Bild) zu Wort. Natürlich stützte man sich dabei auf Expertenwissen, historische Aufnahmen und Augenzeugenberichte:

  • Relive Titanic’s momentous voyage from the perspective of those on board—the captain, engineering, first class, third class, the crew, the officers and even the band.
  • Over 190 detailed tweets covering the events of the 14th/15th of April.
  • Historically accurate tweets drawn from reliable research. (Quelle: History Press Blog)

Im Zuge der Aktion wurde auch eine App veröffentlicht. Mit 860 Tweets und knapp 71.000 Followern war der Account extrem erfolgreich. Als Publicity-Maßnahme für die Bücher und die App der History Press dürfte die Aktion also gut funktioniert haben, in der Presse wurde jedenfalls viel berichtet.

Historische Langzeitprojekte auf Twitter

Einen anderen Ansatz verfolgt @CryForByzantium, dem es darum geht, die Geschichte des oströmischen Reiches abzubilden – und zwar über den kompletten Zeitraum seiner Existenz (also ca. 1100 Jahre):

What’s going on here? On the Twitter feed, I’m going to be microblogging the history of the Byzantine Empire, 140 characters at a time.  Four times a day, the Twitter feed will update with another post that will present to you, in chronological order, a snippet of the history of the Empire.  We’re beginning with the accession of Constantine I (Constantine the Great) in 306, and hopefully will continue all the way through the final collapse of Constantinople in 1453. (Quelle: Blog)

Während die Titanic versuchte, multiperspektivisch zu erzählen, beschränkt sich dieser Account auf die Sicht des Herrschers – der natürlich wechselt, was oft besonders brisant wird:

25 December 820: Going to traditional Christman hymns at the Chapel of St. Stephen. Still mad at @Michael_the_Armorian

25 December 820: New emperor: Michael II. (Michael the Armorian) First orders: throw Leo’s body into the latrine. Clean up all the blood on the floor. And get somebody to break these manacles off me! (zitiert nach: Bryan Alexander: The New Digital Storytelling: Creating Narratives with New Media. Santa Barbara: 2011, S. 62)

Seit dem 12. Juli 2009 werden täglich 4 Tweets abgesetzt, die sprachlich an unsere Zeit angepasst sind und Geschichte emotional und auch mit Witz erzählen. Sehr spannendes Langzeitprojekt, das sich auf mehrere Bücher stützt.

Kollaboration und Reenactments

Die Weltkriege scheinen besonders interessant zu sein, um sie auf Twitter zugänglich zu machen. Ob es nun Offizierstagebücher sind, die getwittert werden oder der Verlauf einzelner Schlachten: auch zum 100jährigen Ausbruch des 1. Weltkriegs 2014 werden bestimmt einige Projekte auf Twitter starten. Bereits 2012 führte das World War Centenary I Portal der University of Oxford ein Twitter-Experiment um die Schlacht von Arras durch. Hierbei besonders spannend: die Art der Zusammenarbeit. Der Account @Arras95 berichtete aus der Perspektive eines neutralen Kriegsreporters die Ereignisse der Schlacht vom 9. April bis zum 16. Mai 2012, die einen Wendepunkt im Kriegsjahr 1912 darstellte. Das Material für den Account konnten alle beisteuern, mit der Bitte um Open Source Material, da es danach ins Onlinearchiv aufgenommen wurde. Auch hier war ein Hashtag #arras95 das entscheidende Filterkriterium, um Tweets zum Thema zu finden und zu sammeln. Der Aufruf und die Art und Weise, wie man hier versuchte, zusammenzuarbeiten, ist recht hilfreich für eigene Experimente. Bryan Alexander bezeichnet Projekte wie dieses als “temporally structured archival blogging.” (Quelle)

Historie und Fiktion

An @Arras95 interessiert mich persönlich vor allem der kollaborative Ansatz und das daraus entstehende Open Source Archiv. Einen Schritt weiter gehen dann Projekte, die fiktive Geschichten kollaborativ erzählen bzw. nachspielen. „War of the Worlds“ (H.G. Wells, 1898) wurde berühmt als Radiohörspiel erzählt von Orson Welles im Jahre 1938. Er lancierte das Ganze geschickt im normalen Programm versteckt, was von anderen Medien aufgegriffen wurde. Ob die Berichte einer landesweiten Massenpanik zutreffen – Leute, die die Landung von Aliens für bare Münze nahmen – sei dahingestellt, jedenfalls wurde Welles berühmt mit diesem Hörspiel und seiner Inszenierung.

Als Reenactment auf Twitter landeten die Aliens dann an Halloween 2008. Auch hier ging es also um einen speziellen Tag, an dem Twitterer dazu aufgefordert wurden, via Hashtag ihre Erlebnisse innerhalb eines fiktionalen Rahmens beizusteuern. Diese Mechanik wird gerade zu Halloween immer wieder genutzt (z.B. als Awakening of Cthulhu-Geschichte), was es dabei zu beachten gilt und wie man dafür sorgt, dass alle im richtigen Tempo voranschreiten, das kann man sich bei @wotw2 sehr gut abgucken:

The War of the Worlds has several phases that I believe have strong analogs in the tense times leading to World Web II (point oh).

  1. a noteworthy astronomer speculates on the possibility of an alien invasion. This would be a good time to talk about the Drake equation in your blog, especially if astronomy is your hobby. Send an email towotw@cixar.com with your blog so we can proliferate it on the @wotw2 Twitter account.
  2. The alien invasion occurs. Follow @wotw2 to keep in sync with the progress of the invasion. This Twitter feed will automatically update, in general terms, the unfolding of the alien invasion like clockwork throughout the world. Coordinate with Tweeters in your area to tell local stories.
    1. cylinders fall from the sky. Tweet about where you are. Ask your friends where they are. Form posses. Skip town or take a closer look.
    2. tripods emerge. Flee, get stuck in traffic, or take refuge and tell us what you see.
    3. Martians begin obliterating every Terran metropolitan area with heat rays. Don’t call them heat-rays; that would be a dead giveaway. Describe what they do and come up with your own name! Do you work in a public service like hospitals or fire? What’s your job and what do you do? Do you organize your coworkers and flee? Do you head for the hills with your go-bag?
    4. Military, local militia, and national guard units get organized and attack the alien invaders. Do you serve in the military? This is your last chance to tell us where you’re headed. Do you have family in a militia? Try to keep in touch and let us know how and where they valiantly fought and lost.
    5. The invasion spreads from cities to countryside.
    6. Tripods begin to shut down an malfunction. Are you near one? Do you take a closer look?
  3. After the threat dies down, people begin to blog and speculate about what happened, and every topic near and dear to them.
  4. The curtain rises. Blog, link, and tweet about the experience. (Quelle)

Kris Kowal hat das Reenactment gestartet und auch noch 2009 durchgeführt. Die von ihm entworfene Mechanik ist immer noch aktuell. Mehr über ähnliche Projekte in den nächsten beiden Posts: Cross- und Transmediales (1. August) sowie Autoren und Buchmarketing (11. August)