In den bisherigen Beiträgen ging es vor allem um Geschichten, die sich nur auf Twitter abspielen. Entweder um Stories, die in 140 Zeichen erzählt werden, jeder Tweet eine andere Miniaturgeschichte, oder Geschichten, die von Accounts getragen werden – von einem oder von mehreren. Manche der bereits genannten Projekte sind dabei bereits crossmedial aufgezogen – derselbe Inhalt wird auch auf anderen Plattformen geteilt, andere gehen transmedial vor: unterschiedliche Inhalte einer Storywelt auf verschiedene Medien verteilt. Gemeinsam ist ihnen: Twitter ist eines der Medien, die für eine größere Geschichte benutzt werden. Um solche Beispiele geht es im vierten Teil der Twitter und Storytelling-Reihe (egal, ob cross-, trans-, inter- oder was auch immer -medial).
Fanfiction, Realität und Fiktion
Bereits bei Projekten, die historische Events über Twitter vermitteln fiel auf, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion schnell verwischen können. Das ist natürlich auch der Fall bei sogenannten Fake-Accounts (die Twitter mittlerweile durch Verifizierungsmaßnahmen zu unterbinden sucht). Viele erinnern sich vermutlich noch an den falschen Münte-Account, der dennoch von Nielsen in einer Studie zu Twitter und Politik als echter Franz Müntefering aufgeführt wurde. Aktuell erheitern die klar fiktionalen @grumpyMerkel neben @depressedDarth meine Timeline, die sich übrigens z.T. gar nicht so unähnlich sind. Depressed Darth ist natürlich eine Parodie auf die fiktionale Figur des Darth Vader aus Star Wars und damit ein Fall von Fanfiction. Bei Fanfiction schreiben Fans Geschichten auf eigene Faust weiter, erfinden neue dazu, spielen mit den Figuren, Schauplätzen und Ereignissen der fiktionalen Welt eines Autors, Films oder einer Serie. Dass Don Draper, Peggy Olson und Roger Sterling sich auf Twitter wiederfanden, um den ein oder anderen Drink zu kippen, das hätte sich wohl auch die Agentur aus Mad Men nicht besser ausdenken können (manche mutmaßen auch, dass eigentlich der Sender AMC dahintersteckt). Helen Klein-Ross, die seit 2008 als Betty Draper twittert (bloggt und ein LinkedIn-Profil pflegt), stieg ein, als sie Don Drapers Twitterfeed fand und sagt, sie sei aus Spaß dabei.
Ross explains that though it might seem easy, „establishing a voice for a character is sort of hard.“ Not to mention making sure that what she writes isn’t anachronistic to the show’s time period. The Mad Men feeds were met with some resistance early on from AMC, the show’s network, but the company’s digital agency quickly explained the benefits of having virtual Drapers. And now, Ross says, she has „friendly but parallel relationships“ with creator Matthew Weiner and AMC, and calls the shots for Twitter Betty, writing several 140-character tweets a day for her more than 25,000 followers. (Quelle: Time Magazine)
Twitter als Teil der Storywelt
Independent Welt
Azrael’s Stop ist die Taverne, in der der Tod stoppt, um mal Pause zu machen, bevor er den nächsten Gast mitnimmt. Die Schicksale der Menschen dieses Ortes, angesiedelt in einem riesigen Reich, erzählt Lucas J.W. Johnson (Silverstring Media) bereits seit einigen Jahren, mittlerweile gibt es ein komplettes E-Book mit Soundtrack zu kaufen – oder man wartet auf die tägliche Microfiction via Twitter und Blog, liest auf Wattpad mit, guckt sich Videos an usw.
Experimente von Penguin
„A teenage girl, a haunted house, a ghost story for digital natives“, so fasst Penguin „Slice“ von Toby Litt zusammen, eine Geschichte, die im Rahmen von We tell Stories über Twitter und zwei Blogs (ein Blog für die Tochter, einer für die Eltern) erzählt wurde. We Tell Stories war 2008 ein sechswöchiges Experiment des Verlagshauses, bei dem pro Woche eine Geschichte publiziert wurde, jede davon unter Einbezug eines anderen Mediums oder Mechanismus. Woche drei drehte sich um ein Märchen, bei dem man als Leser aktiv mitmischen konnte wie z.B. Namen eingeben und andere Entscheidungen treffen (interactive Fiction) , in der vierten Woche adaptierte Nicci French Emile Zolas‘ „Thérèse Raquin“ auf einer Webseite, Woche 5 (Hard Times von Matt Mason und Nicolas Felton) bestand aus einer Reihe von Infografiken und den Abschluss bildete ein weiteres Spiel, nämlich „The (Former) General in his Labyrinth“ von Mohsin Hamid. In vier Richtungen konnte man den Cursor und damit den Fortgang der Story bewegen. Noch vor Slice, dem Twitter-Publishing Experiment der Reihe, stand aber eine Spionagegeschichte. 21steps von Charles Cumming, eine Hommage an 39steps, wurde via Google Maps erzählt, also im Raum verortet. Dieses Location-based Storytelling funktioniert natürlich auch wunderbar in Kombination mit Twitter.
Twitter-Stories kombiniert mit Geolocation
„I’m always thinking about the real-world implications of social media,“ says Larson. „There’s an incredible shift in terms of how we think about privacy and what we’re willing to put out there in real life.“ (FastCo.Create)
Das Künstlerduo Nate Larson und Marni Shindelman gehen zu den GPS-Koordinaten öffentlicher Tweets und machen Fotos, die sie dann mit den Tweets kombinieren. Ihre Auswahl ist dabei ganz subjektiv, von politischen Themen mit Schwerpunkt „Privacy“ bis hin zu romantisch-emotionalen.
Jack the Twitter
Noch spannender ist aber ein anderer Ansatz, der Geolocation-Daten mit Twitter-Storytelling verknüpft. Völlig entnervt von den Checkin-Tweets via Foursquare entwickelte Marcus Brown 2010 den Charakter Jack the Twitter. Als @JacktheT reagierte er auf jeden CheckIn-Tweet innerhalb des berühmt-berüchtigten Londoner East Ends: Ende des 19. Jahrhunderts trieb Jack The Ripper in Whitechapel sein Unwesen, ermordete zahlreiche Frauen und verschwand dann spurlos. Seitdem tauchen immer wieder neue Gerüchte und Verdächtige auf, die als Jack the Ripper in Frage kommen, bis hin zu Verschwörungstheorien, die das Königshaus mit beschuldigen: ein Mythos, der immer weiter lebt. Er erzählte damit keine lineare Geschichte, er spielte einen Charakter und bildete ihn ab. „Streamtelling“ nennt Brown das, der davon ausgeht, dass Geschichten heute nicht mehr nach dem althergebrachten Anfang – Mitte – Ende- Schema funktionieren. Das verändert natürlich auch die Dramaturgie. Marcus Brown verfolgt dabei einen fortlaufenden seriellen Ansatz, der davon lebt, dass es so komisch ist – Spannung wird so nicht aufgebaut. Das „always-on“ hat den Vorteil, dass man immer ein- und aussteigen kann, dafür ist es aber auch nur eine kurze Ablenkung. Irgendwann steigt man aus und kommt nicht wieder – das Prinzip, nachdem die Story funktioniert hat sich abgenützt. Projekte wie Jack The T enden daher auch meist einfach so, da die Charaktere und in diesem Fall auch die Geschichte keine Entwicklung durchlaufen.
Was, wenn Dinge anfangen zu twittern?
Marcus Brown rief übrigens auch mit Hilfe von weavrs die Band The Inanimates ins Leben, die automatisch Inhalte erstellte – u.a. auch über Twitter. Automatische Charaktere zu erzeugen funktioniert noch so lala, als Experiment ist es natürlich trotzdem sehr spannend und hat technische Vorläufer: Bereits 2010 twitterte ein Baum in Brüssel sein Befinden, 2011 dann eine Eiche in Erlangen, jetzt entwickelt Twitter selbst mit der Technologieberatung Berg in London twitternde Gegenstände, erstes Vorzeigeobjekt ist eine twitternde Kuckucksuhr. Man darf gespannt sein, was als nächstes kommt!
Am 11.8. folgt jedenfalls der Abschluss dieser Artikelreihe über Twitter und Storytelling.
Foto: Cast of Mad Men. Foto von Watch with Kirsten auf flickr unter CC BY SA 2.0 Lizenz