Mia möchte Andy wiedersehen. Die beiden Teenager sind ein Paar, und sie vermisst ihn. Aber er hat gerade andere Sorgen. Nach 10 Jahren in einer psychiatrischen Anstalt kehrt heute Andys älterer Bruder Alex zur Familie zurück. Mia ist außer sich vor Sorge. Was, wenn Alex wieder gewalttätig wird?

Vier Minuten Lesezeit sind bis zu diesem Punkt der Geschichte vergangen. Minuten, die ich mit stetem Tappen auf mein Smartphone verbracht habe, denn diese Geschichte ist eine Chat Fiction, erzählt in Textnachrichten, die die beiden Figuren miteinander austauschen. Eigentlich wollte ich gar nicht soweit lesen. Eigentlich wollte ich nur für diesen Artikel recherchieren. Eigentlich interessieren mich Andy und Mia überhaupt nicht, weiß ich doch nichts über sie außer das, was sie in ihren sprachlich einfachen Nachrichten von sich preisgeben. Als nach vier Minuten jedoch die Aufforderung eingeblendet wird, nun entweder Abonnentin zu werden, um sofort weiterzulesen oder 20 Minuten zu warten bis es weitergeht, bin ich kurz versucht, das nächste Probeabo abzuschließen.

Wir wissen alle, wo Probeabos enden. Zum Glück widerstand ich, denn die Auflösung des Cliffhangers und der Twist zum Schluss waren doch eher enttäuschend. Aber wieso habe ich überhaupt so lange gelesen? Was ist die Faszination dieser in Kurzform erzählten Geschichten, manchmal über mehrere Episoden hinweg? Was hat es mit Chat Fiction ganz allgemein auf sich, und wer kam auf die Idee?

Die Entstehung von Hooked

Vor ungefähr zweieinhalb Jahren scheiterte die erfolgreiche Silicon Valley-Gründerin (u.a. Songify) Prerna Gupta daran, ihren ersten Roman zu schreiben. Eine SciFi-Trilogie für Jugendliche sollte es werden, doch der Prozess des langsamen Entwickelns, des Verwerfens und Umschreibens ohne zu wissen, ob sich ein Publikum für ihr Buch finden würde, ließ sie ihr Vorhaben beiseite legen. Stattdessen begann sie nach einer Lösung für den Prozess suchen: Ließe sich hier nicht ein neuer Weg des Geschichtenerzählens finden? Ein “Storytelling für die Snapchat-Generation”, wie sie es selbst in einem Artikel nennt? 2015 haben sie und ihr Mann das Kapital, um eine Firma zu gründen und starten die ersten Usertests, ganz agil und Lean Startup. Sie untersuchen das Leseverhalten von Jugendlichen und schalten Facebook-Anzeigen für jugendliche Smartphonenutzer*Innen, die zu Leseproben erfolgreicher Young Adult Titel führen. Das Ergebnis ist eindeutig. Selbst bei den erfolgreichsten Buchanfängen liest maximal ein Drittel der Testgruppe bis zum Ende, also fünf Minuten am Stück auf dem Handy. Als nächstes versuchen sie, Bilder hinzuzufügen doch an der Lesedauer ändert sich nichts. Erst als sie eine Geschichte in Konversationsform, verpackt in Textnachrichten, ausprobieren, ändert sich das Testergebnis radikal: Plötzlich beenden fast alle die ebenfalls 1.000 Wörter lange Erzählung in einem Rutsch. Vier Monate später veröffentlichen Prerna Gupta und ihr Mann Hooked, die erste Chat Fiction App. So erzählt die Gründerin selbst die Hintergründe von Hooked auf ihrem Medium Blog.

Mittlerweile hat Hooked mehr als 20 Millionen Downloads weltweit erreicht, die App hat etwas mehr Leserinnen als Leser, die meisten sind zwischen 18 und 24 Jahre alt (Diese Zahlen stammen vom Juni 2017, siehe einen Artikel auf The Bookseller). Hooked Geschichten sind in verschiedene Sprachen übersetzt, die ersten Copycats (z.B. Chat Stories, Mini Stories: Chat Style, Scary Stories: Ghost Chat Text, Storyline: Chat Stories To Keep You Hooked, Leak Chat Stories: Text Message, Story Reading App, Annie: Message Chat Stories, Lure: Read Chat Fiction) sind auf dem Markt, und Gründerin Prerna Gupta sucht nach neuen, guten Geschichten.

Ist Chat Fiction ein eigenes Genre?

In einer Untersuchung, was die mit Harry Potter aufgewachsenen Mittzwanziger bis Mittdreißiger jetzt lesen, wurde der Begriff “Grip Lit” geprägt. “Grip Lit” sind Bücher wie Gone Girl oder Girl on a Train, oft mit problematischen Protagonistinnen und einem spannenden Plot, mit vielen unerwarteten Wendungen. Chat Fiction ist “Grip”-Literatur auf dem Smartphone für die Generation Z, denn Spannung ist, was die Geschichten auf allen bislang veröffentlichten Plattformen ob auf Hooked, Tap, Readit, Yarn oder eine der vielen Copycats vereint. Als Leser*in wird man meist mitten in die Handlung geworfen, die schnell dramatisch wird. Der Hang zu übertriebenen Plots, der weitestgehende Verzicht auf Beschreibungen und viele viele Cliffhanger sind Merkmale, die Chat Fiction mit Handyromanen (Cell Phone Novels) teilt. In den traditionell mit Suspense, Grusel und Überraschung arbeitenden Genres wie Horror, Mystery und Thriller sind bislang die meisten Chat Fictions angesiedelt. Doch Romance holt auf. Und Hooked legt mit einer eigenen App für erotische Geschichten oder Sexting Stories nach: Steamy richtet sich an Leser*innen ab 17 Jahren, die Einstiegsgeschichte (wer die Apps das erste Mal öffnet wird sofort in eine Chat Story geworfen) ist von Bestseller-Autorin Gina L.Maxwell und hat (auf Deutsch) bereits 129.000 Leser*innen gefunden. 

Seit Tap, eine Entwicklung der Wattpad Labs, Anfang 2016 veröffentlicht wurde, wird Chat Fiction immer multimedialer. Inzwischen experiementiert Tap in der Geschichte „Interview Skills“ auch mit einem „Choose Your Own Ending“-Ansatz: Als Leser*in kann ich mich an einer Stelle dieser sehr kurzen Geschichte entscheiden, wie sich die Hauptfigur verhalten soll und wie sich damit das Ende gestaltet.

Der Grad an Multimedialität – Audio, Video, Bilder – variiert von App zu App, alle eint jedoch das Businessmodell: Wer ohne Unterbrechungen lesen und die multimedialen Inhalte freischalten möchte, muss ein Abonnement abschließen, das wöchentlich, monatlich oder jährlich abgerechnet wird. Interaktivität, abgesehen vom nötigen auf den Bildschirm tippen, spielt bei Chat Fiction (noch) keine Rolle. Bei Tap und Hooked kann man sich User Accounts einrichten und selbst schreiben, noch stammen die meisten Geschichten aber aus den Federn professioneller Autor*innen, die bei Hooked vielfach an Creative Writing Hochschulkursen gewonnen werden. Wie es mit der Bezahlung der Kreativen aussieht, ob sie Vorschüsse erhalten oder nach Erfolg honoriert werden, ist nicht bekannt.

Chat Fiction und die Buchbranche

Auf der Konferenz “Zukunft des Lesens” der Buchwissenschaftlichen Gesellschaft in München im September 2017, drehte sich fast alles immer noch um die Frage Buch oder E-Book, digitales Lesen wurde fast ausschließlich über die Form des Buchs definiert:

“While everyone’s arguing about HTML vs. apps vs. ePub vs. KF8 (form) — the function of reading is being seriously disrupted by the convenience of SMS, Twitter, Hashtags, Facebook and a host of other new elements — and very few people are paying attention. (…) The future of fiction is far more apt to look like an annotated chat conversation than anything else”, prophezeite Chris Rechtsteiner 2012 auf Publishing Perspectives

Das Festhalten an der Form mag der Grund sein, weshalb Verlage bei der Entwicklung von Chat Fiction praktisch keine Rolle spielen, außer um das Buch zur Chat-Story zu publizieren, wie beim 2009 gestarteten Chat von Gestern Nacht. 2014 erschien dann eine erste Web-Geschichte, die sich als WhatsApp-Chat ausgibt und Hooked vorwegnimmt (annie96 is typing), 2017 sind schließlich mehrere Apps auf dem Markt, die sich nicht mehr am Buch orientieren, sondern vom Smartphone und seinen Nutzer*innen gedacht sind. Auch Tibor Rode, Autor der Chatgruppen-Geschichte “The Message”, die gerade den deutschen eBook Award gewonnen hat, ließ sich von der WhatsApp-Nutzung seiner Tochter inspirieren. oolipo, die Plattform auf der The Message erschien, war nicht allein auf Chat Fiction spezialisiert und die einzige Ausgründung eines Verlages im Kreise der genannten Apps. Anfang November wurde bekannt, dass die Technologie nicht weiterentwickelt wird. Während Hooked im Silicon Valley entstand, Yarn von Science Mobile bzw. Mammoth Media und Hooked-Kopie Readit vom italienischen App-Developer Bending Spoons entwickelt wurde, stammen die meisten Nachahmer aus dem asiatischen Raum. Es sind für die Buchbranche disruptive Firmen wie Wattpad und Amazon, die hier mitspielen. Wattpads Tap-Stories erreichen dank der großen Lesercommunity mehrere Millionen; die Zählweise jedes Taps ist allerdings irreführend, da es die Leserzahl schnell aufbläht und wenig über die tatsächliche Leserate aussagt. Der Erfolg von Amazon Rapids, das sich an Kinder richtet, ist schwer abzuschätzen, da es noch nicht im deutschsprachigen Raum verfügbar ist. Auch genaue Zahlen darüber wie viel Umsatz die einzelnen Anbieter von Chat Fiction machen, gibt es nicht. Laut Priori Data, einem App Analytics Tool, verzeichnete Hooked bis zum Mai 2017 bereits einen Umsatz von 4,16 Millionen durch Abonnements (vgl. OMR). Die deutschsprachige Version von Hooked, in der die Geschichten mehr schlecht als recht übersetzt sind, erreicht mit der erfolgreichsten Story “Wo ist sie?” von Kayla Parent (hier ein Youtube Video der Geschichte) eine Leserschaft von über 180.000, Tendenz steigend. Wie bei allen digitalen Abonnementmodellen müssen Geschichten aber vermutlich auch enorme Leserzahlen erreichen, um sich für ihre Autor*innen auszuzahlen. Es wird interessant mitzuverfolgen, wann die ersten anfangen, mit Werbung innerhalb ihrer Stories zu experimentieren (so wie Wattpad, die App nun nur noch werbefrei zu benutzen ist, wenn man zahlt), ob sich auch hier Autorenbrands bilden und wann bzw. ob der Trend irgendwann wieder abflaut.

Übersicht existierender Chat Fiction Apps

*UPDATE 19.12.2017: Aktuell kann man in Hooked nicht selbst schreiben


Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 22/2017 des Digital Publishing Reports von Steffen Meier, die hier kostenlos runtergeladen werden kann. Der Digital Publishing Report erscheint alle zwei Wochen, das Abo kann ich nur empfehlen