Geschichten in Serie?

Serielles Erzählen

Serielles Erzählen ist das Erzählen einer Geschichte in Fortsetzungen. Seit HBO mit „The Sopranos“ (1999-2007) und „The Wire“ (2002-2008) das Genre der Fernsehserien revolutionierte und nun Netflix und andere Streaming-Dienste die Art, wie Serien veröffentlicht werden, sind Serien das Erzählformat der Stunde. Im Kino aktuell sehr populär sind mehrteilige Reihen, oft zur transmedialen Storywelt ausgebaut und ergänzt um Fernsehserien wie z.B. im Marvel Cinematic Universe oder auch bei Star Wars. Auch Heftromane (Groschenroman oder Eisenbahnliteratur) haben eine lange Tradition. Je nach Genre funktionieren sie als Reihen (wechselnde Helden in einem thematischen Kosmos wie Liebesromane in der Welt des Adels) oder mit einem Serienhelden (John Sinclair, Perry Rhodan, Jerry Cotton, Der Bergdoktor). Von ihrer Machart ähneln sie der Daily Soap oder Telenovela im Fernsehen. Doch nicht nur im Bereich der Trivialliteratur unternimmt die Verlagsbranche immer wieder Anläufe, Geschichten in kleineren Veröffentlichungshappen zu etablieren (neben den gängigen Erzählreihen, deren Einzelbände aber auch komplette Werke sind, die für sich gelesen werden können). Jennifer Egan twitterte 2013 „Black Box“, Cornelia Funke will ihren nächsten „Tintenwelt“-Roman kapitelweise veröffentlichen und denkt dabei an die im 19. Jahrhundert in Zeitungen und Magazinen veröffentlichten Fortsetzungsgeschichten von Charles Dickens. Dickens nahm damit Rücksicht auf die Finanzkraft seiner Leser – einzelne Heftchen konnten sich alle leisten. Dadurch unterschied sich jedoch auch seine Produktionsweise von der anderer Künstler. Da er jede „Folge“ auf eine Deadline hinschrieb, floss teilweise Leserfeedback in den Fortgang der Geschichte mit ein – genau wie bei den (mündlichen) Storytellern, die auf ihr Publikum ganz direkt eingehen konnten. Kein Wunder, dass im 19.Jahrhundert – der großen Zeit der Fortsetzungsromane – auch der Begriff des Cliffhangers geprägt wurde. Ganz wörtlich hing in einer der Episoden von Thomas Hardys  „A Pair of Blue Eyes“ (1873) die Hauptfigur Henry Knight am Ende der Folge an einer Klippe.

Frank Rose behandelt Charles Dickens recht ausführlich in The Art of Immersion im Kapitel „Control“, einzelne Aspekte lassen sich aber auch in seinem Blog nachlesen. 

Fortsetzungsroman 2016

Konnten Abonnenten im 19. Jahrhundert mit Leserbriefen ihre Geschichten beeinflussen (oder zumindest: versuchen, sie zu beeinflussen), ginge das in Zeiten des Internets natürlich sehr viel einfacher und direkter: So können wir seit dem 11. Januar wir Tilman Rammstedt auf seiner Webseite zum Buch beim Schreiben von „Morgen mehr“ über die Schulter schauen. Ein Experiment, das er gemeinsam mit dem Hanser Verlag wagt, und das ihn nun dazu verpflichtet, jeden Tag (außer am Wochenende) einen neuen Textteil abzuliefern. Los ging es mit einer Crowdfunding-Kampagne, mit der die Abonnenten gewonnen wurden, veröffentlicht wird kapitelweise im Blog, als WhatsApp-Nachricht und Email oder auch zum Nachhören als .mp3 eingesprochen. Auch ein tägliches Selfie des Autors darf natürlich nicht fehlen ;-). #Morgenmehr ist ein Wahnsinnsprojekt und extrem interessant, was die vorher vermuteten und dann tatsächlichen Nutzungsszenarien betrifft (dazu hoffentlich in einem späteren Blogpost mehr).

Serienkonsum?

Das eine ist die Experimentierfreude auf Autoren- oder allgemein auf Produzentenseite – das andere aber die Frage, wie wir als Konsumenten mit diesen Stoffen und den in allen Medien verfügbaren Fortsetzungen umgehen. Telenovelas und Daily Soap-Operas im Fernsehen, wöchentliche TV-Serien, Comics als monatliche Heftchen, dann in vierteljährlichen Sammelbänden, Podcasts, die wöchentlich/zweiwöchentlich/monatlich fortgesetzt werden, Blogpost-Serien, Artikelreihen – alles wird Teil eines größeren Ganzen, nichts scheint mehr zu Ende zu gehen. Der Regisseur Christoph Hochhäusler meinte im Deutschlandradio-Interview, es sei ein Zeichen unserer Zeit, dass wir kein Ende mehr fänden: „‚Alles ist vorläufig, alles ist eine Aufregung, die unter Vorbehalt genossen wird.‘ Zudem sei es ‚der feuchte Traum der Industrie, dass man etwas, das Erfolg hat, unendlich fortsetzen kann‘.“ (zum Gespräch mit Hochhäusler) War es in den 90ern noch normal, sich Tag für Tag für die neue Folge von Marienhof, Verbotene Liebe (beide inzwischen eingestellt) oder GZSZ vor den Fernseher zu setzen, um am nächsten Tag im Schulbus mitreden zu können (oder schon abends am Telefon – Facebook gab es ja noch nicht), revolutionierte Netflix mit der Veröffentlichung seiner ersten Eigenproduktion „House of Cards“ (2013) die Art, wie Serien veröffentlicht werden: Alle 13 Episoden der ersten Staffel standen Netflix-Abonnenten zum sofortigen Ansehen zur Verfügung. Das Binge-Watching war geboren. Noch gibt es zwar genug traditionell veröffentlichte Serien, doch so wie man früher auf Video aufzeichnete um nichts zu verpassen, wartet man heute einfach, bis die DVD rauskommt oder alles am Stück online geguckt werden kann. Lässt sich dieses Modell auch auf andere Medien übertragen? Leben Serien wie Lost, Walking Dead oder auch das Podcast-Format Serial nicht davon, dass die Menschen zwischen den einzelnen ausgestrahlten Episoden darüber reden – ob in Lostpedia, der eigenen Fernsehshow „Talking Dead“ oder auf Blogs, Facebook, Twitter, um ihre Theorien über den Stand der Dinge bei Serial zu reden? Und wie ist das mit Büchern??? Wie können fiktionale Geschichten mit dem Social Storytelling meiner Kanäle konkurrieren, wenn ich in der U-Bahn sitze oder nur mal schnell 5 Minuten Zeit zu lesen habe? Leseflow, tiefes, konzentriertes Lesen in Fortsetzungsgeschichten oder nur schnelles drüber scrollen?

Nachdem ich feststellen musste, dass ich bei den täglichen Updates von #morgenmehr nicht hinterherkomme, befragte ich meinen Facebook-Freundeskreis, wie es ihnen damit ginge und bekam recht einheitliches Feedback von denjenigen, die antworteten:

Wir schauen, lesen, hören (spielen) ...

... wann, wo und wie wir wollen

Netflix und Co.

Alleine Netflix wird 2016 die Zahl seiner Serieneigenproduktionen von 16 auf 31 erhöhen (inkl. Fortsetzungen). Nimmt man amazon Prime, Hulu und die (trad.) TV-Sender bzw. Cable Channels hinzu, hat man als Zuschauerin eine unendliche Auswahl an Serien.

Neue Bücher im Jahr

Alleine in Deutschland erscheinen im Jahr an die 90.000 neuen Bücher (2014 waren es 87.134 Titel laut Börsenverein)

Zeit für Medienkonsum

Knapp 9 Stunden stünden uns täglich für Medienkonsum zur Verfügung. „Laut der Studie ‚Media Activity Guide 2015‘ wurde das Medium Fernsehen wie schon im Vorjahr im Durchschnitt jeden Tag 259 Minuten genutzt. Zum Vergleich: die tägliche Nutzungsdauer von Zeitungen und Zeitschriften lag bei 31 Minuten. Bücher wurden 2015 täglich insgesamt 28 Minuten gelesen.“ (statista)

<a href="http://de.statista.com/statistik/daten/studie/165834/umfrage/taegliche-nutzungsdauer-von-medien-in-deutschland/"><img src="http://de.statista.com/graphic/1/165834/taegliche-nutzungsdauer-von-medien-in-deutschland.jpg" alt="Statistik: Durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer ausgewählter Medien in Deutschland in den Jahren 2014 und 2015 (in Minuten) | Statista" style="width: 100%; height: auto !important; max-width:1000px;-ms-interpolation-mode: bicubic;"/></a><br />Mehr Statistiken finden Sie bei <a href="http://de.statista.com">Statista</a>
  • Bingewatching TV 98% 98%
  • Woche für Woche (TV) 10% 10%
  • Gesamtausgabe Buch 90% 90%
  • Tag für Tag-Leser (#morgenmehr) 10% 10%
  • Podcast-Binge 10% 10%
  • Comics (Gesamtausgabe) 50% 50%
  • Comics (Heft für Heft) 50% 50%

Mediennutzung in meiner FB-Wolke

Die links angegebenen Prozentzahlen sind nicht repräsentativ. Sie ergeben sich aus einer in meinem Facebook-Kreis gestellten offenen Frage, auf die 21 Menschen reagierten und sich austauschten. Diese 21 sind bis auf 1-2 Ausnahmen zwischen 30 und 50 Jahre alt, sie arbeiten alle in der Medienbranche, die meisten davon in der oder für die Verlagsbranche, die meisten auch in der Rolle als ProduzentInnen. 12 Frauen und 9 Männer haben sich beteiligt, alle würde ich zu Early Adoptern oder der Early Majority zählen, wenn es um die Adaption neuer Medien geht. Faktoren, die mich noch interessieren würden, sind: Angestellt oder freiberuflich tätig? Macht es einen Unterschied, ob ich täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln pendeln muss, wie ich Medien konsumiere? Bzw. bin ich empfänglicher für die tägliche Seriendosis, wenn ich garantiert jeden Morgen von 7:30 bis 8:00 Uhr in der U-Bahn sitze? Können kurze fiktionale Schnippsel überhaupt mit den (zumindest teilweise irgendwie auch fiktionalisierten) Social Streams unserer Freunde und Bekannten konkurrieren? Wie sähe ein optimaler Veröffentlichungsrhythmus aus? Täglich? Wöchentlich, zweiwöchentlich, monatlich? Und wie lange dürfen diese Serienteile dann sein? To be continued…