Pro Tweet nur 140 Zeichen, je nach Dichte der Leser-Timeline eine hohe Durchrauschgeschwindigkeit jedes einzelnen Storyteilchens – wie erzählt man also erfolgreich Geschichten auf Twitter und welche Möglichkeiten gibt es hier fürs Storytelling? Nutzt man einen Account oder mehrere? Legt man Zeiten fest, zu denen die Geschichte weitergeht? Können Hashtags helfen, die Tweets zu sammeln und: Können Leser die Geschichte beeinflussen? Noch gibt es nur Experimente und kein Geheimrezept für das Geschichtenerzählen auf Twitter, von den unterschiedlichen Ansätzen lassen sich aber einige Merkmale ableiten.

Das Twitter Fiction Festival

Twitter selbst bekundete bereits 2012 großes Interesse an den fiktionalen Möglichkeiten der eigenen Plattform und rief im November 2012 das Twitter Fiction Festival #twitterfiction aus, für das man sich bewerben musste:

Tell us how you are going to explore content formats that already exist on Twitter — short story in Tweets, a Twitter chat, live-tweeting — or, even better, how you’ll create a new one. How will you work with our real-time global platform, where anyone can contribute to your story at any moment? The proposal must fit into the time window of our five day festival — but that means that a project could run for the length of the festival, or just for an hour. (Quelle: Blog Twitter)

Das Festival stand also ganz im Zeichen des Experiments und die 29 ausgewählten Teilnehmer kamen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Viele von ihnen wählten aber, wie Jennifer Egan mit ihrer Geschichte Black Box für den New Yorker Twitteraccount, regelmäßige, vorab angekündigte Veröffentlichungszeiten. Einige Teilnehmer und Berichte über das 5-tägige, rein virtuelle Festival können über die #twitterfiction-Seite übrigens noch gefunden werden. Eine Auswahl der beteiligten Accounts möchte ich hier vorstellen, die komplette Liste gibt es auf dem Blog von Twitter:

#twitterfiction: Shakespeare und Community

Community-Einbezug beim Verlag @wwnorton, der Auszüge aus Shakespeare-Stücken und Sonnetten twitterte bzw. twittern ließ. Jedes derart getwitterte Werk wurde in einem Storify zusammengefasst, das recht schön das Prinzip erzählt – Satz für Satz durch Pucks Rede aus dem Mittsommernachtstraum, erzählt von Twitterern aus der ganzen Welt.

#twitterfiction: Graveyard Poetry

Mitmachen konnte man auch bei Jennifer Wilson:

I post a grave pic. You tweet an epitaph. We’ll make stories together Sunday at noon EST. Bring ur hood and scythe. #TwitterFiction

— Jennifer Wilson (@WriterJenWilson) December 1, 2012

 #twitterfiction: Mythen in 140 Zeichen

Nach dem zeitweiligen Theatertrend Gesamtwerke in einen Abend zu packen,Shakespeare in 90 Minuten lässt grüßen, gab es natürlich auch bei der #twitterfiction Projekte, die Altbekanntes anpassten und neu erzählten. Entweder verkürzt auf 140 Zeichen wie der Account, der italienische Märchen in je 140 Zeichen twitterte oder wie eine adaptierte Neuerzählung einer Henry James Geschichte, die @AndrewPyper vornahm.

#twitterfiction: Mord im Dunkeln

Besonders gut kam eine Kriminalgeschichte von @elliottholt an. Sie ließ drei unterschiedliche Charaktere von einer Party tweeten, auf der eine Frau starb. Die Follower mussten schließlich aus den Tweets der drei Personen schlussfolgern, ob es wirklich ein Mord, Selbstmord oder doch nur ein Unfall war. Wie die Polizei sollten sie die Twitterstreams der drei Personen auswerten und im Anschluss ihr Urteil via Hashtag verkünden. Nicht nur eine gute Idee, auch die Umsetzung mit der Möglichkeit der Interaktion kam bei den Verfolgern des Festivals sehr gut an.

Die Autorin meinte zum Rhythmus des Storytellings auf Twitter -gerade auch im Wechselspiel mehrerer Accounts für eine Geschichte:

“I was very conscious of pacing,” says Elliott Holt, […] “Sometimes one character tweeted three times in a row, for example. I had a rhythm that made sense to me; I was conscious of the beats.” (FastCompany)

Weitere Twitteratur-Projekte

Schon lange vor dem Festival gab es natürlich Autoren und Twitternutzer, die interessante fiktionale Projekte über Twitter testeten. So startete Neil Gaiman bereits 2009 ein Projekt für BBCaudiobooks America, bei dem er zu kollaborativem Storytelling aufrief. Er postete den Beginn der Geschichte (also den ersten Tweet), dann machten seine Follower Vorschläge, wie es weitergehen solle und BBCaudiobooks versuchte aus der Fülle an Vorschlägen dann die bestmögliche Erzählung zu kreieren. Diese wurde im Anschluss vertont und als kostenloser Download im Netz geteilt – vier Jahre später existieren von diesem Projekt allerdings nur noch ein paar Blogposts. Etwas ähnliches machte er übrigens gemeinsam mit dem Guardian kurz vor seiner aktuellen Buchveröffentlichung Mitte Juni 2013. Unter dem Hashtag #Neilstory und in den Kommentaren zu einem Artikel des Guardian kuratierte er einen Tag lang die Vorschläge der Community wie die Geschichte zu seiner Einleitung weitergehen solle.

2011 beauftragte die Huffington Post den Autor und Journalisten Dan Sinker, der für den gefakten Account des Chicagoer Bürgermeister-Kandidaten (@MayorEmanuel) berühmt und berüchtigt wurde, einen Tag lang, eine SciFi-Story zu twittern und die Community war eingeladen, Ideen beizusteuern.

Aus der Twittercommunity heraus bildeten sich sehr schnell Initiativen, um Geschichten auf Twitter zu sammeln. Diese Seiten wie Thaumatrope, ein Sammelbecken für Fantasy, Science Fiction und Horrorstories auf Twitter, fungieren heute vor allem als Archiv. Die neueste Geschichte auf Thaumatrope ist aus dem Jahr 2010. Noch aktiv ist dagegen Nanoism, eine 2009 von Ben White ins Leben gerufene Seite, auf der Autoren ihre Twittergeschichten einreichen können, über 520 sind bereits zusammen gekommen.

 

Wer noch andere Beispiele kennt: ich freue mich über Links und Tipps zu diesem Thema!

Am 29.07. kommt der 3.Teil der Artikelserie rundum Twitter und das Erzählen von Geschichten mit dem Schwerpunkt: Twistory, im 4. Teil geht es um Cross- und Transmediales und der 5. abschließende Artikel fasst die Besonderheiten von Twitter als Storytelling-Medium nochmals zusammen und setzt einen Fokus darauf, wie Autoren Twitter fürs Marketing nutzen können.

Artikelbild: (c) @HarperCollinsAU